Die Wahrheit der Kunst im Zeitalter des Digitalen

– Plädoyer für die Passion des Paradoxes –

Wahrheit ist eine Ameisenidee. Viel wichtiger als Wahrheit ist Phantasie.

Heiner Müller

PROLEGOMENA

In der Kunst gibt es weder eine Autonomie beanspruchende Poetik oder Theo­rie noch eine autonome Praxis. Das eine ist nie ohne die Kritik durch das ande­re denk- und machbar. Theorie und Praxis der Kunst sind ein auszuhaltendes produktives Paradox.

Dieser Text versucht sich also an einem unmöglichen Diskurs: einer Art para­doxalen und unabgeschlossenen Phänomenologie / Philosophie der künstleri­schen Theorie und Praxis. Er folgt einerseits dem Gestus einer kühnen Behauptung, andererseits dem eines work in progress.

Ein Paradox besteht aus zwei sich gegenüberstehenden Polen, deren Spannungs­verhältnis in einem weder dialektischen (nach Synthese strebenden) noch dis­junktiven (sich beide Pole unterordnenden) Dritten ausgehalten wird. Die fol­gende Fragmente behaupten für die ersten beiden Elemente die Namen Phanta­sie und Physis, für das dritte den Namen Pathos.

Material


Beitrag veröffentlicht

in

,

Kommentare

4 Antworten zu „Die Wahrheit der Kunst im Zeitalter des Digitalen“

  1. Aha, sampling philosophy, der der anfangs zitierte Ludwig Wittgenstein würde sich im Grabe umdrehen. Das Paradoxe ist längst Leitideologie unserer Zeit und der Motor der Popkultur. Architektur ohne bauen, Butter ohne Fett, Kunst ohne Kunst etc.. Indem der paradoxe Gebrauch den Dingen ihrer Substanz entzieht (Gebäude, Fett…), kann das Begehren nicht befriedigt werden, so gibt es keinen Endpunkt des Konsumes mehr, keinen status quo der Dinge. Paradoxa sind sexy!
    Ingmar

    1. Die von dir geschilderten Paradoxa sind in Wahrheit keine. Es sind paranoide Konstrukte, künstlich erschaffene Gegensätze, die eben gerade nicht ausgehalten werden wollen/sollen, sondern nach ihrer Auflösung rufen, einen unendlichen Prozess der Suche nach der entzogenen Substanz (der „Wahrheit“ der Butter) auslösen sollen. U.a. genau in diesem Punkt zeigt sich die fatale Allianz von Postmoderne/Dekonstruktion und neoliberalem Kapitalismus, die beide ein unendliches, aber unbefriedigbares Begehren erzeugen. Die Wahrheit des von mir gemeinten Paradoxes aber ist, daß es selbst schon die Wahrheit ist. Es gibt keine Wahrheit „dahinter“. Und was das sampeln angeht: in der Philosophie, genauso wie in der Kunst und der Wissenschaft, wurde das schon immer praktiziert. Platon hat Sokrates gesampelt und der die Vorsokratiker – dennoch (oder gerade deshalb) sind beide damit zu neuen, ganz verschiedenen Standpunkten gelangt. Heute besteht der Unterschied lediglich darin, daß man ums sampeln überhaupt nicht mehr herumkommt, will man nicht in die totalitäre Falle tappen. Das wiederum ist eine wichtige Erkenntnis der Postmoderne/Dekonstruktion…
      Eben darum geht es: Wege aus der Postmoderne zu finden; das Neue, die Utopie, das Subjekt, das Universale wieder zu denken, ohne dabei die Fehler der Moderne zu wiederholen. Auch das, so fürchte ich, ist ein Paradox, das man eben aushalten muß: modern und postmodern zugleich sein.
      Dein Popkultur-Paradox ist (nur) so sexy wie eine Hure oder ein Seitensprung. (Darum gehts hier ja auch zugleich ironisch und pathetisch um Post-Pop – als Neudurcharbeitung des Pop…;-))
      Das Paradox, um das es mir geht, ist (nur) so sexy wie der Partner, mit dem lebenslang zusammenzubleiben man sich freiwillig entscheidet.
      steffen

    2. ach und nochwas: natürlich ist das paradox das beherrschende paradigma bereits bei dem postmoderne-theoretiker schlechthin: lyotard nämlich. alllerdings handelt es sich hierbei eben um das paradox, das in jedem pol einen gegenpol entdecken will, der beide positionen damit relativiert und eigentlich hinfällig macht. das paradox als unendliche zirkulation, die den eigentlichen nihilismus dahinter zu verdecken versucht. das postmoderne paradox bedeutet die damit zwar die bannung des totalitären (es gibt keinen „richtigen“ oder „falschen“ standpunkt) – aber auf kosten einer eigentlichen erstarrung. ein spielerische brummkreisel, der sich zwar ständig bewegt und lärmt: aber in seinem zentrum herrscht stille und stillstand.

      dem entgegen wiederum steht das dialektische und disjunktive paradox, dessen pol – gegenpolbewegung nach synthese, also einer „höherstufigen“ auflösung strebt (während das postmoderne paradox sich im obsoleten und relativierten auflöst). dies ist das paradox der moderne (die dialektik der aufklärung), das zwar bewegung bedeutet, aber auch die gefahr des totalitären hervorbringt (du stehst entweder am „richtigen“ oder am „falschen“ standpunkt). erzeugt das postmoderne paradox spiel, spaß und spannung als trompe-l’œil vor dem abgrund des nichts, erzeugt das moderne paradox den „heiligen“ ernst der terror- und kriegslogik, die das nichts immer auf die andere seite abschiebt.

      in meinem aufsatz schildere ich diese beiden paradoxa als hysterische interpretation eines vorgängigen paradoxes, jenes des seins an sich: das die welt existiert – zugleich aber auch das nichts. die moderne und postmoderne verkennung will das nichts in schach halten, anstatt es selbst produktiv zu machen. anstatt zu erkennen, daß die welt nur existiert, WEIL das nichts existiert. und umgekehrt.

      meine interpretation hingegen nimmt hier eine mittelstellung ein: paradox des produktiven spiels. zirkuläre bewegung: ja. aber ohne relativierung der standpunkte. sondern im gegenteil aufruf zum produktiven widerspruch. synthese: nein, aber dennoch ein dritter zustand: das ausharren in der produktiven bewegung von widerspruch und gegen-widerspruch aushalten. dieses paradox bedeutet wie das der moderne bewegung – aber ohne totalitäre gefahr. denn sein fokus befindet sich weder beim end-ziel (der auflösung der pole in einem „höherwertigen“ zustand) noch bei seinem ursprung (jeder standpunkt hat sein gegenteil: also sind alle standpunkte relativ, différance). sein fokus liegt auf der bewegung selbst. denn in wahrheit ist sie es, die das verfluchte nichts in schach hält, weil es das nichts selbst produktiv macht. das doppelte paradox von „der weg ist das ziel“: daß man dem postmodernen stillstand in der zirkulation die es unterbrechenden ziele der moderne wieder entgegenhalten muß – ohne sie gänzlich erreichen zu dürfen.

  2. Gast

    ziemlich alt.