Letzten Samstag fühlte ich mich das erste Mal wirklich niedergedrückt und geschlaucht von der Situation – heute wieder.
Ich frage mich, wie viel Sinn diese Aufzeichnungen hier machen. Nicht nur, dass sie Zeit und Kraft kosten. Spontan aus dem Bauch heraus begonnen, erscheinen sie mir nun eitel und geltungssüchtig.
Was soll eine weitere Stimme in all dem Geschrei? Was sollen weitere Worte in Zeiten der Tat?
Außer, etwas für die Kinder festzuhalten, die später noch einmal nachlesen können, wie dieses erste Geschichtsbücher-Großereignis ihrer Biographie von den Eltern wahrgenommen wurde. Außer, die abgeschotteten Großeltern hierüber ein Stück weit teilhaben zu lassen. Außer, die Ohnmacht in eine tröstende, produktive Energie der Selbstermächtigung und -behauptung kanalisierend zu übersetzen.
Das sind zwar drei gute Gründe. Die Texte dazu bräuchte man aber entweder nicht online stellen. Oder wären als Video-Blog vermutlich reichweitenstärker.
Ich denke nach. Worum geht es hier? Wen und was will ich erreichen?
Eine Art Herantasten an das, was wir jetzt schmerzvoll lernen müssen: Die Komplexität der Welt in der ganzen Vieldeutigkeit des Begriffs endlich nicht nur wahrzunehmen, sondern auch anzuerkennen, in unser Verhalten zu integrieren, anstatt sie mit Entertainment oder Ersatzhandlungen zu überspielen.
Es geht hier nicht einfach um eine weitere Meinung.
Es geht hier um ein zählend-erzählendes Dabeisein, das sich gerade den allgegenwärtigen Story-Tellings der Vereinfachung zu entziehen versucht.
Um Sensibilität, Seismografie, Suche.
Meinungen produzieren andere.
Hat man beispielsweise die letzten Tage den Covid-19-Tracker von Bing verfolgt, wird einem vielleicht aufgefallen sein, das Russland bis vor Kurzem verdächtig Corona-unberührt geblieben ist. Erst heute zeigten sich die ersten verteilten Pünktchen wie Röteln auf einem unschuldigen Kindergesicht. Forscht man nach, stößt man schnell auf die Vermutung, dass Russland absichtsvoll Zahlen verschleiert, z.B. Coronatote hinter Lungenentzündungstoten versteckt. Schlechte Nachrichten kämen Putins Anliegen, sich die ewige Macht zu sichern, nicht zupass. Im Gegenteil ist davon auszugehen, dass die russischen Geheimdienste die Presseagenturen und sozialen Medien des Westens mit gezielten, weiter destabilisierenden Desinformationskampagnen fluten, wie zur sogenannten Flüchtlingskrise. Während auf der anderen Seite Trumps Versuch steht, das Virus sippenhaft-mäßig gegen China zu instrumentalisieren.
Die Schwierigkeit, in Zeiten, in denen Warfare über Wortfare geführt wird, für all dies überhaupt noch brauchbare Worte zu finden, gehört also unbedingt hier mit in die Chronik.
Worte der Furcht um die Geflüchteten auf Lesbos, die komplett aus dem Fokus geraten und der Pandemie hilflos ausgeliefert sind; für die Menschen in Gaza, Syrien, Lybien, Jemen, Venezuela; überall dort, wo die Ausgangsbedingungen Italiens noch unterboten werden.
Worte der Furcht um die eigenen Verwandten und Bekannten.
Worte der Furcht um die konkreten ökonomischen Konsequenzen und deren Folgen für die rechten Stimmenfänger.
Worte der Furcht um weitere dammbruchartige Freiheitseinschränkungen, die zugleich Machbarkeitsstudien der Macht sind.
Worte der Hoffnung, das die meisten Verschwörungstheorien und allzu düsten Zukunftsprognosen sich auch diesmal wieder weitgehend als falsch erweisen werden.
Worte der Hoffnung, dass dem globalen Slowdown dieses Mal aber wirklich ein paar mehr Nicht-mehr-weiter-so’s folgen werden.
Worte der Hoffnung, dass das Weltuntergangs-Pathos, das wir Wohlstandsverwahrloste plötzlich vor uns her tragen, wenigstens gerechtfertigterweise auch zu brauchbararen Sinnstiftungen führt.
Worte der Hoffnung, dass diese Krise die Saat legt, bis eben noch als utopisch geltende Projekte nun doch als umsetzbar zu erkennen und anzugehen.
Wer hätte noch vor 14 Tagen einen Appell für möglich gehalten wie den von Uno-Generalsekretär Guterres heute, weltweit alle Kämpfe zu beenden, um sich gemeinsam gegen das Virus zu stellen?
Und doch: Sagt er das nur, weil er glaubt, das wäre der adäquate Onliner seiner leading role im zweiten Akt des laufenden Desasterfilms?
Fake News war gestern, nun sind wir komplett ununterscheidbar in unseren eigenen Fiktionen und Selbstinszenierungen angekommen.
Solange wir aber dem Katastrophenkino – anders als das Russlandbeispiel – positive Fiktionen entgegenhalten, die wie selbsterfüllende Prophezeiungen mithelfen können, das Beste für alle zu erreichen, ist es wurscht, ob man an diese Fiktion glaubt, oder nicht. Wie beim Placebo ist es eher die fürsorgliche Geste gegenüber dem Patienten, als dessen Glauben, was den Wirksamkeits-Effekt erzeugt.
Mehr fürsorglich-weltzugewandte Fiktionen also!
Zum Schluss ein paar Zahlen:
Noch leben wir hier in Offenbach auf einer (städtischen) Insel der Seligen in Hessen. Die Fallzahlen gingen in den letzten Tagen nur gemächlich von 4 auf 5 auf 8 jetzt 11 hoch. Frankfurt nebenan hat mittlerweile 196 Fälle und führt damit aktuell die hessische Statistik an.
Kommentare
Eine Antwort zu „Vom Story-Telling und der fürsorglichen Fiktion – Chronik der Coronatage (11): Dienstag, 24.03.2020“
[…] taz: Es gebe inzwischen zu viele überflüssige Corona-Tagebücher. Ich stellte ich mir schon am 24.03. die selbstkritische Frage. Ob die dort gefundenen Antworten überzeugen – insbesondere jene, die […]