Eine ernsthafte poetologische Auseinandersetzung mit dem Thema „Wie und wozu braucht es Phantastik, was kann sie leisten“ jenseits der aktuell dominierenden Groschenheftfantasy wird meines Wissens leider von nur sehr Wenigen geführt. Eine rühmliche Ausnahme bildet Dietmar Dath. Bereits in seinem Essayroman Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit streifte er das Thema, entstammen doch diejenigen Filme und Texte, die bewußt mit Drastik und Deutlichkeit operieren, häufig den phantastischen Genres. Kein Wunder, schon Todorovs Phantastiktheorie hält ja fest, das gerade das Phantastische einer nah am Körperlichen gelegenen und eindeutig-deutlichen Realitätsfolie bedarf, aus der das Phantastische erst hervortreten kann – um sich dann z.B. als „Horror“ wieder als gewaltsames und Realitätskategorien irritierendes Ereignis in den Körper einzuschreiben.
Nun also hat Dath den Phantastischen Erzählungen ein ganzes Kapitel in seinem neuen, vielgeschmähten Buch Der Implex (verfasst mit Barbara Kirchner) gewidmet. Der Frage, inwieweit die Kritik an diesem ehrgeizgen Bloch-Update berechtigt ist, soll hier nicht weiter nachgegangen werden – nur so viel: Mit ihrem verschwurbelt-verschachtelten und vor Paranthesen und (häufig in Klammern befindlichen) Nebenparanthesen nur so strotzenden Duktus haben die beiden Autoren der Lesbarkeit ihres Anliegens keinen Gefallen getan. Aber zur Sache: Ich zitiere hier zwei Stellen, die im Zusammenhang mit meinem eigenen Fokus interessant sind:
Mathematische und Unwirkliche Ideen sind, sagen wir daher, notwendig in etwas eingebettet, das wir, Harlan Ellison ebenso folgend wie dem späten Kurt Gödel, aufgrund dieser ihrer Irreduzibilität auf jede Erfahrung, jede Praxis, letztlich: jede Wirklichkeit nicht anders nennen können, als: die Wahrheit. (…)
Die unwirklichen Künste sind also nicht überholt, wie Adorno glaubt, sie sind aber auch nicht die Zukunft, wie manche Science-Fiction Fans denken, sie sind nur, wenn die Leute, die sie schaffen, wissen, was sie tun, über sich als Künste von vorneherein aufgeklärter als die realistischen und die naturalistischen, die sich diese Aufklärung nur über emphatische Anbindung ihrer Werke an das Programm „Moderne“ verschaffen konnten und können.
Das ist alles, aber nicht wenig.
Dietmar Dath/Barbara Kirchner: „Contes Fantastiques“ In: Der Implex. Sozialer Fortschritt. Geschichte und Idee. Berlin: Suhrkamp, 2012, S. 339 – 398, hier S. 373 und 378
Beim Stichwort Wahrheit zwinkert einem natürlich die Philosophie eines Alain Badiou zu. Nur hätte dieser niemals eine Korrelation zur Phantastik gesehen. Danke Dietmar! Denn was das kleine Kapitel leistet, ist, die Phantastik von ihrer exklusiven Stellung in der Kunsttheorie als entweder nur trivial oder bloß idealistisch-„weltfremd“ zu befreien. Und zugleich aber den Fokus auf eben jene Eigenschaft zu verschieben, die sie für heutiges Kunstschaffen so geeignet macht: nämlich, dass sie ihre eigene Künstlichkeit „wenn die Leute, die sie schaffen, wissen, was sie tun“ stets mit ausstellt. Gerade dem vorgeblichen Realismus/Naturalismus nämlich, der häufig als besonders gesellschaftskritisch gilt, sodass er auch immer wieder, z.B. im Manifest für einen relevanten Realismus, für künstlerisch notwendige Zeitdiagnostik eingefordert wird, ist im Zeitalter des Spektakels und realexistierenden Fiktionalismus besonders zu mißtrauen; ich habe in meinem Artikel über die Genrefrage bereits darauf hingewiesen. Eine doppelte Naivität: wird doch häufig jene „kritische“ Wahrheit, die man derart zutage fördern möchte, durch die Naivität realistisch/naturalistischer Gestaltung wieder besonders glatt- und stumpfgeschmirgelt, also vermarktbar gemacht. Schließlich ist heute nichts inszenierter und ausbeutbarer als das Authentische. Besonders perfide also z.B., dass die derzeit herrschende Ästhetik des Kinos die subversiven Anteile der Harrypotters und anderer Fantasyschinken durch die Pseudo-Authentizität des Computerbildes zu vernichten versucht; die Phantasie als Brutstätte des „Anderen“, als Ausbruch aus dem Narzissmus wird lahmgelegt: Das Computerbild deutet alles für mich aus. Das „wahre“ Phantastische als eines, das die Phantasie in Gang bringt, um mögliche Alternativen der Welt und des Ichs ins Spiel zu bringen, braucht es heute also mehr denn je für eine Wahrheit der Kunst im Zeitalter des Digitalen.
Alexander Kluge hat den Kern des Problems übrigens schon vor Jahren kurz und prägnant so formuliert:
Die schärfste Ideologie: dass die Realität sich auf ihren realistischen Charakter beruft.
Alexander Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1975
Oder von der anderen Seite der Medaille her mit Friedrich von Borries gesprochen: „Fiktion ist beste Tarnung der Realität.“
Kommentare
2 Antworten zu „Phantastik ist Wahrheit“
… und Alban Nikolai Herbst hat soeben eine kleine Reihe über phantastische Räume im Internet begonnen – wie meist sehr lesenswert.