Gedanken zu breitem vs. tiefem Denken in und außerhalb des Netzes

Einen interessanten Zeit-Artikel „Denken, wie das Netz es will“ aus dem Jahr 2010 hat gestern Steffen Peschel von kultur2punkt0 wiederausgegraben, der mich heute morgen spontan zu ein paar Gedanken veranlasst hat. Im Artikel findet sich zur der Frage, wie das neue Medium Internet unsere Wahrnehmung verändert, das von Netzaktivisten häufig negierte, aber durch jüngste Studien belegte Statement: der Surfer erfasse

intuitiv mehr, doch er versteht insgesamt weniger. (…) Schlimmstenfalls erodiere unsere Fähigkeit, tiefere Probleme selbst zu lösen, sich in die Gedankenwelt anderer hineinzuversetzen und mitzuempfinden. Bis dahin ist es noch ein Stück, doch das Netz wird stärker. Die Kraft hinter der Entfaltung des neuen Mediums ist die Wirtschaft.

Das kann man mal so als einen der Preise, die wir für den digitalen Wandel bezahlen, stehen lassen. Nun wäre es aber auch spannend, sich mal den Gegenpol näher anzusehen und zu untersuchen, welche Vorteile ein zwar flacheres, dafür aber „breiteres“ Denken hat, dass „intuitiv mehr“ erfasst. Zum Beispiel, ob sich eine erhöhte Aktivität im Default Mode Network feststellen ließe. Schließlich wissen wir heute, das Träumen und kreative Problemlösungen einem Hirn gerade dann entspringen, wenn es sich in einem Zustand der „Lockerungsübung“ und des entspannten Dahintreibenlassens befindet.

Die Hauptfigur in meinem Roman Rowland vertritt (z.B. hier) die These, dass die Ablösung der Schreibmaschine durch den Computer dazu geführt habe, dass der Schreibakt heute viel näher an unbewusste Hirnprozesse herangerückt sei, weil seine Schnittstellen (Tastatur/Monitor/Textverarbeitungssoftware) ungleich unaufwändiger zu benutzen und mit viel mehr  nachträglichen Überarbeitungsmöglichkeiten ausgestattet seien, die der Schreibmaschine völlig abgingen. Auch die Nähe zur Oralität von im Netz verfassten Texten deutet in eine ähnliche Richtung. Es ließe sich also vielleicht die (okay, nicht sonderlich originelle) These aufstellen, dass wir mit dem Netz an einer Art Direktverschaltung unserer Hirne arbeiten. Aber: eben eher des kreativen, sprunghaften, assoziierenden, neue Verknüpfungen suchenden Teils/Aspekts unserer Hirne.

Dies im Hinterkopf, könnte das Netz (wenn wir mal die aktuellen Probleme Monopolisierung und Überwachung ausblenden) in seiner medialen Verfasstheit ein mächtiges Werkzeug für schnelle, ungewöhnliche, neuartige Problemfindungen/-lösungsstrategien sein/werden. Doch um diese dann wieder tiefer reflektieren, einordnen, bewerten, in der Tiefe „durchdenken“ und ausloten zu können, braucht es u.a. die nicht-ablenkende Fokussierung des linearen Gedankengangs.
Das benötigt Zeit, Abstand, Einsamkeit, bewusste (körperliche) Hindernisse zur „Abarbeitung“. Das ist eher mittels analoger und unverbundener Medien zu haben. Natürlich gibt es hierbei fließende Übergänge sowie „Inseln“ des Analogen im Digitalen und umgekehrt. So wie dieser kleine Gedankentext selbst, den ich zwischendrin liegenlies, um nun nach der Mittagspause nochmal drüberzugehen, bevor ich ihn absende. Aber es könnte ein Fingerzeig sein, dass wir beides brauchen. Und beides auch in Zukunft haben werden: Medien für breites und tiefes Denken.

Die scheinbare Allgegenwärtigkeit des Netzes verführt leicht zur der Annahme, das ihm letztlich nichts entkommen könne. Die Teils hysterischen Debatten um Buchkultur vs. Netzkultur kennen aber häufig nur die beiden Extrempositionen „Hoffnung auf“ vs. „Angst vor“ der Totaldigitalisierung. Dabei hat auch schon das Fernsehen noch immer keine Totalvernichtung des Buches bewirkt.
Wohl aber – und dies zu leugnen wäre höchst naiv – massive Veränderungen in den Ästhetiken und Machtstrukturen, z.B. eine die Durchsetzung eines „filmischen“ Realismus im literarischen Mainstream, Effekte der Aufmerksamkeitsökonomie, usw.
Zugleich aber werden durch solche Veränderungen „Stärken“ der älteren Medien nochmal auf besondere Weise sichtbar, z.B. dass die nur in der Imagination „auflebenden“ phantastischen Welten eines Buches dem Versuch seiner hyperrealistischen Abbildung/Simulation durch CGI nach wie vor überlegen ist.
Diese „Rückbesinnung“ findet zwar häufig eher zunächst in Nischen abseits des Mainstream statt, kann aber, wie z.B. jüngst beim Vinyl auch zu einem „zweiten Frühling“ führen.

Natürlich wird auch das Netz weitere und massive Veränderungen/Verschiebungen in den „alten“ Medien vornehmen. Die Kunst dabei wird sein, solche, die die wahren Stärken z.B. des Buches, das ja auch eine „Allesfresserform“ ist, nochmal anders zur Erscheinung und Blüte bringen können, zu umarmen (das Fernsehen wiederum z.B. kommt vielleicht gerade mit den aktuellen, durch das Internet begünstigten Serienformaten erst so Recht zu sich selbst). Und zugleich seine „analoge“ Eigenständigkeit/Widerständigkeit gegen die aktuell verheerende Allianz von Digitalisierung und Neoliberalisierung zu verteidigen. Denn jene Neoliberalisierung ist es doch in Wahrheit, die nach Totalisierung strebt.

Oder anders: es gilt den Anspruch z.B. des Buchs auf eine vielfältige, totale Abbildung der Welt wiederzubehaupten, um damit gerade jeglichen falschen Totalitarismen entschieden entgegenzutreten; vor allem jenen, die weniger mit der Verfasstheit des Digitalen Raums an sich zu tun haben, als mit der Verfasstheit unseres neoliberalen Systems, das uns das Netz-als-Werkzeug aus der öffentlichen Hand zu entwinden versucht, um es in einen stumpf gewordenen privat-kontrollierten Marktplatz zu verwandeln. Ergo: Buch wie Netz gilt es als unterschiedliche Weisen und Werkzeuge der Welterekenntnis, aber auch einmal gemeinsam schlagende Waffen stark zu machen. Mal hilft mehr der Stich mit der in die Tiefe dringende Spitze, dann wieder braucht es einmal einen Hieb mit der vollen Breitseite …

Und auch, wenn man diese diffusen Gedanken sicher noch weiter vertiefen, präzisieren, besser formulieren, untermauern könnte, setze ich die Botschaft nun so ab.


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