Franzl

Hier nun die Passage aus Rowland oder Die Queste zum Unicode, die ich den Machtloserjungs für ihre Tombola versprochen und kürzlich auch zugeschickt habe:

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Bis zum Ende der ’80er lag es am Ende der Welt. Die Bauern vorm Stacheldraht: Zonenrandgebiet hieß das damals. Kurz nach der Wende hatte es Hoffnung gegeben für diesen Landstrich, in den der Freistaat angeblich unablässig Kapital hineinpumpte, das jedoch bereit auf den ersten Hopfenfeldern an der Grenze mit der Jauche versickert zu sein schien. Erst stürmten die Konsumdefizitären die Kaufhäuser, um sich ihr neues Westgefühl mit nach Hause zu nehmen, dann besetzten sie mit Elan auch noch diejenigen Arbeitsstellen, die hier keiner wollte. Umgekehrt stand den hiesigen Unternehmen drüben mit einem Mal ein Pionierland für Einkaufsmärkte aller Art zur Verfügung. Wer am meisten versprach, kriegte es auch.
Der Boom war nur ein Strohfeuer – seit Mitte der ’90er kippten sämtliche Statistiken wieder nach unten; Keramik und Textil gingen vor der neuen Ostkonkurrenz in die Knie. Zwar kommt kaum ein Auto auf den Straßen der alten Tante Europa ohne Einbauteile von hier aus. Zwar liegt die Region in Sachen Radfahren im Bundesvergleich ganz vorne dran, gilt immerhin als die zweitbeliebteste. Zwar leben die hier Ausharrenden geographisch gesehen in der Mitte Europas, weil das Gebiet vom Mittelmeer genauso weit entfernt ist wie von der Nord- oder Ostsee. Dennoch bleibt die Tatsache: Wo man nur über holprige Landstraßen an die Peripherie gelangt, ziehen die Ureinwohner lieber fort, um die Ballungszentrengeplagten ihre grüne Idylle stürmen zu lassen: Neun Millionen Mark erwirtschaftet auf diese Weise der Frankentourismus.
Meinen Eltern ist das alles egal. Froh, mich wieder hier zu haben, bestechen sie mich mit »Baumwollenen in Pelzkappenbräih.« Beruhigend irgendwie.
Jaja, Geschichte schreiben. Was hatten sie Bohnenkeimlinge sich damals für ein Allotria daraus gemacht, das Leben des mickrigen Dorfkollektivs tüchtig irrezumachen. Wie das so vor sich geht in den Trabantenkommunen mittelgroßer Kreisstädte: Man muss nur einmal am Morgen im Tante-Emma-Laden – heute eine Edeka-Filiale – vorbeigeschaut haben, um sich für seine paar Pfennig die geschätzte Ahoj-Brause oder endlich den grünen Spielschleim zu besorgen, auch dem Gerücht nachzugehen, es gebe eine neue Wassereisgeschmacksrichtung »Weizenbier« mit 0,3 Prozent Alkohol – und man war durch Ekel-Elke, die alte Emmatante, ungewollt wieder auf dem neuesten Stand gebracht über die Sorgen und Sonderbarkeiten, Nöte und Nahrungsgewohnheiten, Unterlassungen und Untaten der Einwohner des Kaffs, uns konnte sie es ja erzählen.
Mit diesem Wissen viel es wirklich schwer, sich nicht einzumischen. Wenn sie schon nicht beim dritten Krieg der Sterne Regie führen konnten, dann wenigstens ihre eigene Galaxis beherrschen. Fast einen Sommer lang waren sie die heimlichen Imperatoren der Niederschißritzer Geschicke: von ihrer Geheimbasis im Forst aus fädelten sie die Operationen ein, die in ihrem Kaff wieder Wahrheit und Gerechtigkeit wiederherstellen sollten – was oftmals nur durch die Zerstörung von Frieden und Ordnung zu bewerkstelligen war.
Meistens war es ein Brief, der den Stein ins Rollen brachte; oftmals aber genügte eine im richtigen Augenblick fallengelassene Bemerkung, die sogleich von der intendierten Antenne willfährig empfangen wurde. Es war der ereignisreichste Sommer, den Nieder- Ober und Mittelschißritz jemals erlebten, damals im Jahre achtzig! Sie kanalisierten, verknoteten, knickten und kreuzten die Lebensstränge, flochten Schleifen und Schlaufen hinein, verschafften jedem sein Wagnis, seinen Wendepunkt und sein Waterloo. Jeden Tag eine gute Tat, jeden Tag eine gute Geschichte …
Hans Dinel, dem unvermeidlichen Dorfstreicher, bekennenden Halbinvaliden und Quartalssäufer, der immer irgendwo im Weg herumstand, um das tägliche Treiben bierselig zu mustern, verhalfen sie zu einem Lottogewinn, der niemals eingeklagt werden konnte; die Schucks und Grüntalers brachten sie dazu, ihre Fehde endlich in Handgreiflichkeiten eskalieren zu lassen: indem sie den Schuck-Hund und die Grüntaler-Katze kurzerhand entführten und jeweils beim anderen auf die Portalstufen scheißen ließen; sie stifteten eine Beziehung zwischen Anne Wollmann, der hässlichen aber hitzigen Jungfer im Klimakterium, die sie oft beim einsamen, tränenerstickten Dosedillern und Dampfnudeldrücken zugleich angewidert und neugierig durchs Fenster beobachtet hatten, und Karl Friedrich, dem kernigen Siebeneinhalbtonnerlenker mit Faible für Deutsche Schlager der ’60er – und so ging es mit vielen anderen.
Das Treiben fand ein jähes Ende, als sie dem Siedenschwinger Mariechen einen Brief zukommen ließen – in jener krakeligen Schreibschrift, wie sie von ihrem Söhnchen, dem zwar scheuen, aber ständig blöd kichernden Zweitklässler, bekannt war – heute würde man ihn als entwicklungsgestörten Manisch-Depressiven bezeichnen und mit Medikamenten gegen Hyperaktivität vollpumpen, damals war das noch ganz normal in dem Alter. Jedenfalls: Einer von ihnen hatte gerade noch durch die Katzentür gepasst, um das Schriftstück auf dem Küchentisch zu deponieren.

HALLo MuddI, NABNd FaddI,

HAps sAdd HIER. ALLs Soo öd.

pIN AusGWANdERd. WüNSCHd MIR kLÜk.

LIEpE EuCH dRoTZTEM.

FRANZL

Sie hatten sich nur einen Jux machen, das tranige Einerlei der Siedenschwingers zumindest einen Moment lang, wenn die Mutter mittags von der Arbeit zurückschlurfte, um eine warme Mahlzeit für den kleinen Heimkehrer vorzubereiten, in Schwung bringen wollen; der Junge wurde ja wirklich nicht immer koscher behandelt – Zeit, der Madame und ihrem Gatten einen heilsamen Schock beizubringen.
Sie hatten Franzl nämlich beim Aussteigen aus dem Schulbus in Bayreuth dabei erwischt, wie der sich hinter die anderen zurückfallen ließ und ein bisschen herumdruckste und in einem unbeobachteten Moment die Biege machte, irgendwo auf den Wiesen bei der Eremitage einen schönen Tag zu erleben. Sie steckten die Köpfe zusammen, nahmen sich vor, die letzten beiden Stunden Sport mit der Ausrede ausfallen zu lassen, sie hätten ihre Turnschuhe vergessen, und das nächste Vehikel heimwärts zu nehmen, um noch rechtzeitig eine weitere Nebenlinie ihres galaktischen Epos einzuführen: diesen Zettel zu deponieren.
Zunächst lief alles nach Plan. Franz kehrte mittags nicht zurück, weil er auf der Wiese die Zeit vergessen hatte, wie sie gehofft hatten – und schon ging es los: Was für eine Erregung im Siedenschwingerschen Haus! Als er aber wirklich den ganzen Tag ausblieb und auch bis zum folgenden Morgen, begann die Sache heikel zu werden: Üblicherweise dauerte es ja, bis so ein Kriminalapparat in die Gänge kam, solange nicht fürchterliche Ereignisse bereits als gesichert erschienen – dummerweise hatte Franzls Mutter ein Bettverhältnis mit dem Oberinspektor, wie ihnen Ekel-Elke hinterher einmal zuraunte. Am nächsten Mittag stand das halbe Departement auf der Siedenschwingerschen Matte. Das ganze Kaff war in Aufruhr, die Grünröcke durchkämmten die Höfe und Wälder, Gerüchte wurden wie Fischlaich gestreut: Ein Fremder sei gesehen worden, nein man habe sein Gesicht nicht erkennen können, aber er habe etwas Vierschrötiges und so einen gemeinen Gang gehabt.

Sie schwiegen, wussten ja beinahe genauso wenig, wie alle. Wie schnell sich die Menschen zufriedengeben, wenn nur die Puzzleteile halbwegs zusammenpassen und das, was so aus ihnen sich bildet, der Erwartung entspricht. Der Brief wurde für echt befunden – entstanden unter dem Druck einer Entführung oder viel Schlimmerem. Niemandem fiel der Unterschied zu Franzls sonstigen schriftlichen Äußerungen auf. Nun ja, es gab derer noch nicht viele.
Am dritten Tag schließlich fanden sie ihn. Der g’schamige Hauskaspar war ein vorübergehender Kaspar Hauser geworden, durch eigenes Verschulden festgehalten im Dunkeln: In einem Bayreuther Hochhauskeller habe er mit sich selbst Spion und Spion gespielt, zum Beispiel die Autonummern aller verdächtigen Typen aufgeschrieben, die er den Tag über so durch die Souterraingitterstäbe beobachtet habe – sei aber aus Versehen in einem Nebenraum eingesperrt worden, als er sich vor einem Bewohner dorthin geflüchtet hätte, um der Entdeckung zu entgehen.
Ihre Verwicklung kam nicht heraus. Niemand bezweifelte, dass der Brief nicht von ihm stammte: Den Eltern traute man einiges zu – und sie sich selbst offenbar auch –, was den kleinen Rabauken zum Abhauen veranlasst haben könnte. Franzl, der nun doch mager Gewordene, bezog Prügel. Erst recht, als er leugnete. Und das mit dem Oberinspektor kam nun natürlich ans Licht. Der Vater beantragte die Scheidung, die Mutter zog zu ihrem Uniformierten nach Bayreuth, der Sohn blieb beim Papa, der die Woche über auf Montage fuhr.
Alles in allem hätten die Dinge schlechter laufen können. Mit dem Überstehen dieser Geschichte waren wenigstens die Lügen dahin, die Frontlinien einmal gezogen, der frühe Schritt zur Mannwerdung getan. Manche warten mit fünfundfünfzig noch auf so ein Ereignis. Heute arbeitet er bei VW, hat eine kleine Familie, ein abbezahltes Eigenheim am Stadtrand, ich würde sagen – er hat es geschafft!
Ich könnte das jetzt anders aufschreiben, tu’s aber nicht:
Für Oliver jedoch hörte der Spaß auf. Er wollte kein Imperator mehr sein, sich nicht mehr originell in die Lebensgeschichten der Leute einschreiben, er machte den Judas. Obwohl sie beste Freunde blieben, hatte diese Geschichte eine Weiche gestellt: Er ging Rolands vorgezeichneten Pfad zur Geistes- und Geschichtswissenschaft nicht mehr mit.

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