Lesen!:
Das Theater soll uns in bester Biedermeier-Tradition ein ideales Leben vorspielen und uns das Gefühl geben, daran teilzuhaben. Dieses nur notdürftig kaschierte Kuschelbedürfnis hat sich absurderweise auch längst in jenes Theater eingeschlichen, das den Anspruch hat, ein politisches zu sein.
Das Theater unserer Tage macht sich der Politik ähnlich, anstatt diese zu unterlaufen oder gar aus der Position der Autonomie, des riskanten Experiments, vielleicht auch des Scheiterns heraus ganz neue Horizonte aufzuzeigen und so andere Lösungsansätze zu entwickeln. Bloß keine Unschärfe. Und schon gar keine Ironie. Keine Verunsicherung. Alles soll seine Richtigkeit haben und gut und nützlich sein. Das Theater als Fortsetzung des Leitartikels.(…)
Meine Strategie war stets, dass der Kritisierende sich selbst ins Zentrum der Kritik stellen muss, um glaubwürdig zu sein.(…)
Wir sind Ödipus. Egal wie kritisch wir uns mit den Ursachen der Pest auseinandersetzen, wie sehr wir dagegen sind und wie schön wir dies in einem einfachen Hauptsatz formuliert kriegen: Wir sind es selbst! Sich dieser Erkenntnis auszusetzen und damit umzugehen, wäre die Aufgabe des Theaters. Ohne sich hierzu zu verhalten, wird kein zeitgenössisches Theater wirklich politisch und aufrichtig sein.
Nicolas Stemann: Wir sind Ödipus. Überlegungen zum politischen Theater der Gegenwart