Der schreibende Minsch hingegen ist permanent mit einem Bewusstsein zusammengeschlossen, das mühsam den Dingen ihre Erzählung erst abringen, die Welt in Zeilen überführen, ›herzählen‹ muss, wie man das nach Flusser vielleicht bezeichnen könnte. Wer schreibt, der liest deswegen auch anders. Er sieht in jedem Faktum eine Faktur, eine heuristische Rechnung, die nie ganz aufgeht und mit der man deswegen immer noch einmal von vorne beginnen muss. Mit anderen Worten: Der literarische Mensch erhält ganz von selbst eine dunkle Vorstellung von der subjektiven Verantwortung jeder literarisch repräsentierten Wirklichkeit. (…)
Dementsprechend enwickelt der beruflich Schreibende – und selbst dann, wenn er nur politischen Journalismus betreibt – notgedrungen ein problematisches Verhältnis zur rein informationellen, vorgeblich objektiven Wahrheit. Er kann ihr nicht vertrauen und deshalb auch nicht auf ihrer Grundlage handeln.
Lesen wir den Plagiarismus der Gegenwart nicht skandalisierend, sondern diagnostisch, nehmen wir ihn in irgendeiner Weise ernst, dann lässt sich ihm eine Botschaft entlocken: Die Zeit der Rechner ist nicht unsere Arbeitszeit. Je stärker wir uns bemühen, unsere Arbeit dem digitalen Zeitalter anzupassen, umso deutlicher tritt zutage, dass unser Denken den Anforderungen der Vernetzung nicht nachzukommen vermag. Wir suchen am Computer die Entlastung und finden die Beschleunigung. Wir erwarten von ihm die Befreiung zur Arbeit und erhalten die Negation von Arbeit. Wir versprechen uns von ihm die Freiheit der Rede und vergessen dabei, dass es unsere eigene Rede sein sollte, die man da vernimmt, dass wir selbst es sind, die wahrgenommen werden wollen. (…)
Systematisch verlernen wir im Rausch der Geschwindigkeit nach und nach alle Fähigkeiten literarischer Aneignung: Wir lesen nichts mehr, was nicht durch einen schaffensrelevanten Kontext verlinkt ist; wir merken und notieren uns nichts mehr, weil onehin alles mühelos wieder aufgefunden werden kann; wir lesen keine längeren zusammenhängenden Texte mehr und mehrfach lesen wir gar nichts mehr. Und weil wir uns nichts mehr aneignen, wollen und können wir auch selbst nichts mehr zu eigen haben.
Philipp Theison: Literarisches Eigentum. Zur Ethik geistiger Arbeit im digitalen Zeitalter. Stuttgart: Alfred Kröner, 2012, S. 74 und 123f.